Berthold-Sakramentar
Der genauso ehrgeizige wie kunstsinnige Abt Berthold (reg. 1200–1232) machte Anfang des 13. Jahrhunderts das Benediktinerkloster Weingarten zu einem der bedeutendsten Zentren der Buchmalerei. Dies konnte ihm nur gelingen, weil einer seiner Mönche mit einem unglaublichen Talent der Illumination gesegnet war: der namentlich nicht näher bekannte Berthold-Meister. Die fantasiereichen Initialen und emotionsvollen Miniaturen sind subtil im Ausdruck und zugleich prachtvoll mit üppigem Gold gestaltet. Darin zeigt sich angelsächsischer wie auch flämischer Einfluss, was am Übergang von der Spätromanik zur Frühgotik ein Alleinstellungsmerkmal des Skriptoriums von Weingarten darstellt. Man kann die auf 165 Pergamentblättern platzierten insgesamt 128 Miniaturen, historisierten und ornamentalen Initialen und Kalenderseiten nicht studieren, ohne sie zugleich voller Staunen vor ihrer Einzigartigkeit zu bewundern.
Berthold-Sakramentar
Mit Berthold von Hainburg wurde im Jahre 1200 in Weingarten ein Mann zum Abt bestellt, der die Geschicke des Konvents nachhaltig prägen und das Kloster zum glanzvollen Höhepunkt seiner Geschichte führen sollte. Bertholds größtes Verdienst liegt in der uneingeschränkten Förderung der künstlerischen Aktivitäten seines Skriptoriums, das nach dem verheerenden Feuer von 1215, bei dem ein Großteil der Abtei eingeäschert worden war, eine ungeahnte Produktivität entfaltete. In dieser Zeit sorgte der Abt nicht nur für den raschen Wiederaufbau des Klosters, er beauftragte auch zahlreiche Handschriften, die in ihrer Ausstattung höchste künstlerische Qualität aufweisen. Der prächtigste Codex unter ihnen war das Berthold-Sakramentar.
Das Skriptorium des Klosters Weingarten
Die im Jahre 1053 auf dem Martinsberg oberhalb von Ravensburg gegründete Benediktinerabtei Weingarten verfügte bereits um 1100 über ein eigenständiges, leistungsfähiges Skriptorium.
Die besondere und in weitem Umkreis singuläre Eigenart der Weingartener Buchmalerei des 12. Jahrhunderts liegt im häufigen Auftreten angelsächsischer und flämischer Stilelemente. Dies ist nicht verwunderlich, hatte doch im Jahre 1094 Judith von Flandern, die Gemahlin Herzog Welfs IV. und Schwägerin des englischen Königs, ihrem Hauskloster etliche Codices gestiftet. Auf der Ausstattung dieser Handschriften baute das Weingartener Skriptorium seine eigene Produktion auf und erreichte innerhalb weniger Jahrzehnte ein bemerkenswertes Niveau.
Ihre Blütezeit erlebte die Weingartener Buchmalerei jedoch in den ersten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts – und sie verdankt sie einer glücklichen Fügung: Mit Abt Berthold, dem ehrgeizigen, kunstsinnigen Vorsteher des Klosters, und dem sog. Berthold-Meister, einem überragenden Miniator, trafen zwei Persönlichkeiten aufeinander, von denen jeder für die Verwirklichung seiner Pläne des anderen bedurfte: Der Abt forderte außergewöhnliche künstlerische Leistungen, um den Ruf des Klosters zu mehren, der Maler benötigte für die Entfaltung seines unvergleichlichen Talents die materiellen Voraussetzungen und weitgehende Freiheit.
Aus diesem kongenialen Zusammenspiel entstanden Buchmalereien, die zu den schönsten ihres Genres gehören.
Der Meister des Berthold-Sakramentars
Obwohl ihm nur vier Handschriften (mit insgesamt immerhin 92 Miniaturen) sicher zuzuweisen sind, gilt der Berthold-Meister als eine der eigenständigsten und bedeutendsten Künstlerpersönlichkeiten der mittelalterlichen Buchmalerei.
Eindringliche dramatische Gestaltung des szenischen Geschehens, eine durch modellierenden Farbauftrag erzielte neue Plastizität und eine unerschöpfliche dekorative Kraft zeichnen die Miniaturen dieses anonym gebliebenen Malers, der nach seinem Auftraggeber „Berthold-Meister“ genannt wird, aus. Hinzu kommt ein für das beginnende 13. Jahrhundert ungewöhnlich selbstständiger Umgang mit überkommenen Traditionen. Die aus der besonderen historischen Situation des Klosters und seiner Verbindung mit den Welfen erklärbaren Einflüsse der angelsächsischen und flämischen Buchmalerei dienen dem Berthold-Meister lediglich als Quellen der Inspiration, aus denen er – mit einer außergewöhnlichen Beherrschung technischer und formaler Mittel – seinen eigenen, ganz persönlichen Stil entwickelt.
In der Verschmelzung von Inhalt und dekorativem Ornament zu einem einheitlichen Ganzen und im hochausgebildeten Sinn des Künstlers für Stil und Form, die in seinem Hauptwerk, dem Berthold-Sakramentar, jeder Seite abzulesen sind, findet das romanische Kunstwollen seine reinste Ausprägung.
Der Weg der Handschrift in die Pierpont Morgan Library
Das Berthold-Sakramentar ist unbestritten das Hauptwerk der Weingartener Malerschule und wurde in der Abtei über Jahrhunderte hinweg als „thesaurus“, als kostbares Besitztum wie ein Schatz gehütet.
Erst mit der Säkularisierung im Jahre 1803 musste es den Ort seiner Entstehung verlassen. Gemeinsam mit anderen wertvollen Stücken aus der Bibliothek und der Schatzkammer gelangte die Handschrift zunächst nach Fulda und schließlich (nach der Besetzung Fuldas durch französische Truppen im Oktober 1806) nach Paris. Dort wurde der Codex 1818 von einem Kunsthändler an Thomas Coke, Earl of Leicester in Holkham Hall verkauft, von dem sie im Jahre 1927 in den Besitz des amerikanischen Bankiers John Pierpont Morgan jr. überging.
In der Pierpont Morgan Library/New York, zu deren wertvollsten Zimelien es gehört, hat das Berthold-Sakramentar seine (wohl endgültige) Heimat gefunden.
Eine Welthandschrift
Es sind weltweit nur sehr wenige Codices, die aus der relativ großen mittelalterlichen Produktion qualitativ hochstehender Handschriften gleichsam als Solitäre herausragen – zu diesen wenigen gehört das Berthold-Sakramentar.
Die von Abt Berthold wahrscheinlich unmittelbar nach dem großen Brand von 1215, bei dem unter anderem auch die Klosterbibliothek schwer zu Schaden gekommen war, in Auftrag gegebene Prachthandschrift steht in formaler und materieller Hinsicht weit über den meisten vergleichbaren liturgischen Büchern der Spätromanik.
Sensationelle Illumination
21 ganzseitige Miniaturen, 7 Historienbilder, 6 ganzseitige, 12 halbseitige und 52 kleinere ornamentierte Initialen, 18 figürliche Initialen und 12 Kalendertafeln bilden den Buchschmuck der insgesamt 165 Pergamentblätter. Zu dieser Quantität der Bilder kommt ihre außergewöhnliche Qualität. In ihnen erweist sich der namentlich unbekannte Miniator, der mit dem Notnamen „Berthold-Meister“ in die Kunstgeschichte eingegangen ist, als Künstler ersten Ranges. Seine Bedeutung lässt sich in beinahe allen Bereichen des künstlerischen Ausdrucks erkennen: Mit der Betonung der organischen Struktur und der Zusammenfassung der Einzelteile zu einem einheitlichen Ganzen überwindet er den starren, hölzernen Figurenaufbau; seine ausdrucksstarken, modellierenden Pinselstriche und die häufig gesetzten Glanzlichter verleihen den Körpern zusätzliche plastische Werte; die dynamischen Drehbewegungen dienen der dramatischen Belebung des szenischen Geschehens und schaffen räumliche Beziehungen; die wohlüberlegte Farbigkeit verstärkt die dekorative Wirkung.
Eine der größten Leistungen des Berthold-Meisters liegt jedoch in der freien Interpretation der ihm vorgegebenen Themen, der Eigenständigkeit seiner ikonographischen Lösungen. Wie alle Künstler dieser Zeit schöpft auch er aus der reichen Überlieferung biblischer Themen vor allem in byzantinischen und – für die Weingartener Buchmalerei besonders vorbildlich – angelsächsischen und flämischen Handschriften. Wie kein anderer jedoch befreit er sich von oberflächlichen Zitaten, indem er Inhalt und Form zu einer untrennbaren Einheit zusammenführt. Hierin und in der Perfektion der malerischen Umsetzung kommt dem Berthold-Meister ein unschätzbares Verdienst zu.
Kostbare Edelmetalle für eine edle Handschrift
Zum hohen künstlerischen Rang des Berthold-Sakramentars tritt durch die verschwenderische Verwendung von Edelmetallen ein nicht unbeträchtlicher materieller Wert. Sämtliche Miniaturen und ein Großteil der Initialen sind mit Gold und Silber hinterlegt, was den Farben eine besondere Strahlkraft verleiht.
Doch wer in dieser großzügigen Anwendung metallischer Farben bereits den Höhepunkt einer luxuriösen Ausstattung vor sich zu haben meint, wird im Berthold-Sakramentar mit einer weiteren Steigerung überrascht: Bei insgesamt 32 Miniaturen und Initialen sind die Goldgründe hochpoliert; bei sechs Bildern sind die goldenen Hintergründe in einem technisch aufwendigen Verfahren zusätzlich mit deutlich erhöhten Reliefs verziert. Diese höchste Stufe dekorativer Pracht hat der Berthold-Meister – in künstlerischer Besonnenheit und Selbstbeschränkung – den Darstellungen zu den Hauptfesten des Kirchenjahres und des Klosters vorbehalten.
Als größter Schatz der Abtei Weingarten erhielt das Berthold-Sakramentar schließlich einen mit vergoldeten Silberreliefs und Filigranschmuck verzierten und mit Edelsteinen besetzten Prachteinband, dessen reiches ikonographisches Programm einen direkten Bezug zum Kloster und zum Auftraggeber, Abt Berthold, herstellt. Diesen Einband – und dies ist ein weiteres Rarissimum innerhalb der Buchgeschichte – hat die Handschrift bis zum heutigen Tag im Originalzustand bewahrt.
Über aller Begeisterung, die man der künstlerischen Ausstattung des Codex entgegenbringen muss, darf der Inhalt, die zentrale Rolle des liturgischen Textes, nicht außer Acht gelassen werden. Mit Messkanon, Temporale, Sanktorale und zahlreichen Votivmessen umfasst die Handschrift die für Sakramentare kanonische Textauswahl. Die von insgesamt drei Schreibern verfasste Niederschrift entspricht in ihrer kalligraphischen Perfektion der Qualität des Bildschmucks und verbindet sich mit diesem zu einem Gesamtkunstwerk, das in der Geschichte der Buchmalerei seinesgleichen sucht.
Kodikologie
- Alternativ-Titel
- Berthold Sacramentary
- Umfang / Format
- 330 Seiten / 29,3 × 20,4 cm
- Herkunft
- Deutschland
- Datum
- Zwischen 1200 und 1232
- Epoche
- Stil
- Sprache
- Schrift
- Gotische Minuskel
- Buchschmuck
- 128 Schmuckseiten mit 21 ganzseitigen, 5 halbseitigen und 2 kleinen Miniaturen; 6 ganzseitige illuminierte Texte; 19 historisierte Initialen; zahlreiche Zierinitialen; viele mit Blattgold und Silber, einige stark brüniert.
- Inhalt
- Sakramentar
- Auftraggeber
- Berthold von Hainburg, Abt des Klosters Weingarten (1200–1235)
- Künstler / Schule
- Berthold Meister (Buchmaler)
- Vorbesitzer
- Abtei Weingarten
Abtei St. Peter, Salzburg
Friedrich Wilhelm von Oranien-Nassau
General Niboyet
Monsieur Delahante
H. Philipps
Thomas William Coke, Graf von Leicester
Pierpont Morgan Jr.
Berthold-Sakramentar
Anbetung der Könige
Anstelle eines Stalls verwenden die Künstler abgerundete Bögen, um anzudeuten, dass sie die Szene im zentralen Register dieser Miniatur mit einem schimmernden goldenen Hintergrund in einen Palast verlegt haben. Maria thront wie eine Königin, die die Ehrerbietung der Vasallen an ihren neugeborenen König empfängt. Die drei Könige nähern sich mit ihren Gaben, die ersten beiden präsentieren ihre bereits, während der dritte noch geduldig wartet. Das Jesuskind streckt ihnen seine rechte Hand entgegen und macht schon eine Segensgeste.
Berthold Sakramentar
Die Entschlafung Mariens
Die Bebilderung dieses unvergleichlichen Werkes der spätromanischen Kunst zeichnet sich durch die Subtilität seiner mit Gold und Silber reich verzierten Miniaturen aus. Der so genannte Berthold-Meister führt diese beliebte Szene im wahrsten Sinne des Wortes meisterhaft aus und bringt die darin enthaltene Emotionalität auf bestaunenswerte Weise zum Ausdruck.
Der jeweilige Gesichtsausdruck der Zwölf Apostel, die sich wundersamerweise von ihrer Missionsarbeit auf der ganzen Welt in Jerusalem zusammengefunden haben, reicht von leiser Trauer bis zu tiefempfundener Angst bei derjenigen Gestalt, die neben Marias Bett gerade zusammengebrochen ist. Der Ausdruck Christi ist jedoch ruhig, er sieht fast so gelöst aus wie seine Mutter. Das kleine Kind, das er in den Armen hält, ist die Seele seiner Mutter, die jetzt Frieden gefunden hat und wieder mit ihrem Sohn vereint ist. Die Rollen von Mutter und Sohn werden damit auf hintergründige Weise vertauscht.
#1 Berthold-Sakramentar
Details zur Faksimile-Edition:
Sprache: Deutsch
Hg. v. Felix Heinzer, Stuttgart, und Hans Ulrich Rudolf, Weingarten, unter Mitarbeit zahlreicher Fachwissenschaftler.
(3.000€ - 7.000€)
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