Die uralte Legende von den drei Lebenden und den drei Toten und ihre spannende Interpretation in der Buchmalerei
Im 13. Jahrhundert brachte die französische Vergänglichkeitsdichtung eine ganz erstaunliche Erzählung hervor. Sie berichtet von drei Edelleuten, einem Herzog, einem Grafen und einem König, die Gott an ihre Sterblichkeit erinnern wollte. Da sie zu viel auf ihre Statussymbole gaben und einen äußerst verschwenderischen Lebensstil pflegten, hielt Gott ihnen einen Spiegel vor: Ihnen erschienen drei Tote, deren verweste und abgewetzte Skelette einen grauenhaften Anblick boten.
"Was ihr seid, das waren wir. Was wir sind, das werdet ihr."
Während zwei der Adeligen mit Abscheu und Furcht reagierten, verstand der dritte von ihnen Gottes Absicht. Auch die Toten waren einmal Edelleute. Und so ermahnten sie die drei Lebenden, dass im Tod und vor Gott alle Menschen gleich waren. Nicht auf Stand und Reichtum kam es im Jenseits an, sondern auf ein gottgefälliges Leben voller Demut und Bescheidenheit.
Deshalb erinnerten die Toten die Edelleute an die Unausweichlichkeit des Todes, der jeden ereilte – auch junge Menschen wären hiervor nicht gefeit. Diese grausige Zukunftsvision sollte die Lebenden an die wirklich wichtigen Dinge erinnern – nämlich die Vorsorge für das Leben nach dem Tod durch ein sündenfreies Dasein.
Die Darstellung der Legende in der Buchmalerei
Da die Legende sich an Adelige richtete, ist es nicht verwunderlich, dass sie in Bild- und Schriftform vor allem in wertvollen Handschriften zu finden ist. Das Bildthema wurde dabei insbesondere für die Illustration von Totenoffizien und Sterbegebeten verwendet, die sich in den meisten Gebet- und Stundenbüchern fanden. Bis ins 16. Jahrhundert hinein, erdachten sich zahlreiche, vor allem französische und flämische Buchmaler unterschiedliche Variationen der Darstellung. Werfen wir also einen Blick in unsere Faksimiles!
In dem prächtigen Psalter des Robert de Lisle, entstanden um 1310-1320 in Westminster (Vereinigtes Königreich), werden die drei bekrönten Edelleute, einer sogar mit einem wertvollen Jagdfalken auf dem Arm, ihren verwesten Pendants noch streng gegenübergestellt. Die Mittelachse dient hier als Spiegel, durch den die Adeligen ihre wenig optimistische Zukunft auf der rechten Seite betrachten können. Die Leiber der Toten zeigen dabei anschaulich verschiedene Verfallsstadien.
Mit der Zeit wurden dann Pferde zu beliebten „Accessoires“ der Edelleute, die ihren adeligen Rang betonten. Im Stundenbuch der Bonne de Luxembourg, entstanden in Paris vor 1349, reagieren die Reittiere auf die sprechenden Skelette mindestens so skeptisch wie ihre Reiter. Außerdem befinden sich die Toten auf einem passenden Schauplatz: einem Friedhof.
Zum Ende des Mittelalters wurden die Darstellungen immer dramatischer und die Lebenden in den dynamischen Szenen teils zu Gejagten. Sowohl die Miniatur im Berliner Stundenbuch der Maria von Burgund als auch diejenige im Fitzwilliam-Stundenbuch (oben) zeigen das unerwartete Aufeinandertreffen vor satten, grünen Landschaften. Die Edelleute werden gleichsam auf einem ihrer exklusiven Jagdausflüge überrascht. Sie fliehen auf ihren Pferden vor den mit Speeren bewaffneten Toten, die im Fitzwilliam-Stundenbuch sogar schon einen Sarg bereithalten.
In der frühen Neuzeit verliert sich letztlich die Spur der Legende der drei Lebenden und der drei Toten, deren Platz andere Vergänglichkeitsdarstellungen wie die Totentänze einnehmen sollten.